Der Bedarf an Gott

Der Text ist ein kleiner Auszug aus dem E-Book „Religion ist für Feiglinge“.

Gott oder nicht?
Gibt es einen Gott? Der Streit darüber und welche Rolle der Glauben im Leben der Menschen spielt, ist – ausgelöst durch den unerwartet aufgetretenen religiösen Fundamentalismus christlicher und islamischer Prägung – neu entfacht. In dieser Diskussion stehen sich gewöhnlich Gläubige verschiedener Konfessionen und Atheisten gegenüber. Die eine Seite beschwört eine Auferstehung des Glaubens, die andere Seite bezeichnet den Glauben als Gotteswahn.
Doch es gibt nicht nur Gläubige und Nichtgläubige. Es gibt auch solche, denen es schlicht gleichgültig ist, ob ein Gott existiert oder nicht. Für die der Glaube keine Bedeutung hat.
Soll man zur Gottesfrage als jemand, für den die Frage nach der Existenz Gottes keinen Sinn ergibt, Stellung beziehen? Ich denke, das lohnt nicht.  Denn weder lässt sich Gottes Existenz beweisen noch seine Nichtexistenz. Beides ist und bleibt über alle Darlegungen hinweg reine Glaubensfrage, und damit besser dem endlosen Streit der Rechthaber der einen oder anderen Seite überlassen.
Interessanter und spannender als Gottesbeweise zu suchen oder Gotteswiderlegungen aufzustellen erscheinen mir andere Fragen. Etwa die Fragen, wozu Gott gebraucht wird, und von wem er gebraucht wird, wozu er benutzt wird, wie an ihn geglaubt wird, wann man sich auf ihn beruft. Denn offenbar besteht ein Bedarf an Gott.

Der Bedarf an Gott
Seit der Mensch weiß, dass er beobachten kann, fühlt er sich beobachtet. Damit entsteht der Bedarf an Gott.
Vom entwickelten Tier weiß man, dass es beobachten kann. Aber weiß der Affe, der dabei zuschaut, wie ein anderer Affe Erdnüsse vertilgt auch, dass er diesen Affen beobachtet und dass er von diesem anderen Affen beim Beobachten beobachtet wird? Die Wissenschaft bezweifelt dies. Allein dem Menschen wird eine ausgeprägte selbstreferenzielle Psyche zugesprochen.
Aufgrund eines rätselhaften Evolutionsschrittes hat der Mensch ab irgendeinem Punkt seiner Entwicklung erkannt: „Ich sehe und werde gesehen und bin mir darüber klar“. Dies ist gewissermaßen die Geburtsstunde des Ich, eines Begriffes oder einer Vorstellung von sich selbst. Es ist der Moment, als Adam und Eva in den Apfel bissen und “sie erkannten sich”.
Der Mensch unterscheidet nun zwischen sich und allem anderen, zwischen sich und der Welt. Abstand entsteht. Er kann diese Welt beobachten, und offensichtlich beobachtet die Welt ihn. Darüber hinaus beobachtet er eine Welt, die unendlich erscheint, unüberschaubar, rätselhaft und beängstigend, und zugleich grenzenlos machtvoll ihm gegenüber. Eine unerklärliche Welt, deren Zusammenhänge ihm rätselhaft sind und der er sich ausgeliefert fühlt. Eine Welt, die er ganz offensichtlich nicht erschaffen hat und über die er keine Kontrolle auszuüben vermag.

Ein Leben im Zweifel
Es leuchtet ein, dass mit dem Abstand der Erkenntnis die Wahl und damit der Zweifel in des Menschen Welt Einzug hält. Wo komme ich her? Was soll ich tun? Was macht mir die Welt und ihre unsichtbaren Kräfte gewogen und was erzürnt sie? Wie werde ich gesehen und beurteilt? Was ist richtig und was ist falsch? Was ist gut und was ist böse? Was lässt mich leben und was sterben? Was kommt nach dem Tod?
Diese Fragen sorgen für eine große Beunruhigung. Eine Unruhe, die vor der Erkenntnis sicherlich nicht vorhanden war. Zu sein und keine Macht über sich zu haben. Zu existieren, ohne sich selbst in die Welt gesetzt zu haben. Zu leben, ohne dem Tod entkommen zu können. Erkenntnis weckt einen immerwährenden Zweifel, ein nicht endendes Nagen an scheinbaren Gewissheiten. Und zu zweifeln bedeutet vor allem: zu Leiden.

„Wo gibt es, so fragt man sich, eine felsenfeste, unerschütterliche Gewissheit, auf der sich alle menschliche Gewissheit aufbauen lässt?“ (Hans Küng, Existiert Gott?)

Damit ist der Kern allen Glaubens und seiner Fragen beschrieben: Wie kann der Mensch vom Leiden erlöst werden? Wie kann er der Ungewissheit entkommen? Wo kann er unerschütterliche Gewissheiten finden?

Zweifel in Wahrheit auflösen
Logischer Weise gibt es nur einen Weg, dem Zweifel zu entkommen: indem man zur Wahrheit findet.
Was ist Wahrheit? Dieser Bewusstseinszustand zeichnet sich nicht durch unumstößliche Erkenntnisse aus, schließlich stellt sich die Wahrheit von heute morgen schon als Irrtum heraus.
Wahrheit besteht, wo jeder Zweifel abwesend ist. Wahr ist, wogegen keine Fakten sprechen. Was wahr ist, das kann und braucht und darf nicht bezweifelt zu werden. Was wahr ist, daran kann man sich halten. Mit völliger Gewissheit.
Die Wahrheit über die Welt zu finden, über ihre Ursprünge, ihren Sinn, ihre Bestimmung, eine Erklärung für das Unerklärliche und einen Begriff für das Unbegreifbare – das dient dazu, die existentielle Beunruhigung des Menschen zu beruhigen. Diese Wahrheit ist gefunden. Ihr Name lautet Gott. Gott ist das Ende der Ungewissheit.

Gott ist die Lösung
Mit Gott löst der Mensch sein größtes Problem: das Problem des Nichtwissens und der damit verbundenen Ungewissheit. Mit Gott weiß er, denn Gott ist eine Universalerklärung. Gott erklärt alles. Gott hat die Welt erschaffen. Gott bestimmt über das Schicksal der Menschen. Gott gebietet über Leben und Tod. Gott ist Anfang und Ende. Ohne jeden Zweifel.
Der Bedarf an Gott entsteht mit dem Bewusstsein des Menschen von sich selbst. Gott löst das Erkenntnisproblem, das mit dem Bewusstsein entsteht: das Problem der Ungewissheit, des Nichtwissens. Er liefert Erklärungen für das Unerklärliche. Er beseitigt den Zweifel. Und damit beruhigt er.
Der Soziologe Dirk Baecker beschreibt die soziale Aufgabe Gottes in einfachen und klaren Worten: Er sagt: „Gott ist die Erklärung dafür, dass es so ist, wie es ist. Und Gott ist vor allem die Beruhigung darüber, dass ich daran, wie es ist, nichts zu tun brauche.“

Was ist, ist. Das ist er, der Wille Gottes.