Wie lassen sich Nebenbeziehung führen?
Vortrag von Michael Mary an der Fachhochschule Merseburg im Rahmen der Tagung „Von Verliebtheit, Treuebruch und Kuckuckskindern – Soziobiologische und evolutionspsychologische Aspekte der Sexualität“.
Die Ausgangsfrage für meinen Vortrag wurde von Professor Harald Stumpe formuliert: „Können gut funktionierende Langzeit-Partnerschaften, die fast alle über einen Rückgang des sexuellen Interesses klagen, begreifen, dass die sexuelle und einvernehmliche Nebenbeziehung ein guter Ausweg sein kann?“
Ich würde sagen, dass viele Partner das bereits begriffen haben, die meisten Therapeuten jedoch noch nicht. Die Betonung liegt allerdings darauf, dass eine Nebenbeziehung ein Ausweg sein kann, denn diese Beziehungsform ist aufgrund der spezifischen Probleme, sie mit ihr verbunden sind, nicht für jeden geeignet ist. Sie kommt grundsätzlich für Paare in Betracht, die eine gute Lebenspartnerschaft aufgebaut haben und diese nicht deshalb aufgeben wollen, bloß weil sie die romantische, leidenschaftliche Liebe darin vermissen.
Alte und neue Töne
Allgemein wurde und wird in der Paartherapie davon ausgegangen, dass die Leidenschaft sich aufgrund mangelhaften partnerschaftlichen Verhaltens aus einer Beziehung zurückzieht. Demzufolge wurde und wird versucht, die Partnerschaft zu verbessern und man geht davon aus, dass die Liebe von einer besseren Partnerschaft profitieren wird.
Dieses Vorgehen scheint allerdings nur da (oft auch nur kurzfristigen) Erfolg zu zeigen, wo tatsächlich eine schlechte Partnerschaft der leidenschaftlichen Liebe im Weg steht. Auch neuere Versuche, die Leidenschaft aus den sexuellen Differenzen der Partner zu speisen versprechen nur Erfolg, wenn die Partner in den sexuellen Differenzen tatsächlich Gemeinsames finden, wovon man aber nicht per se ausgehen kann.
Neuerdings hört man von Therapeuten (hier David Schnarch) Aussagen wie „Zu wenig Liebe durch zu gute Partnerschaft“. Da zeichnet sich offenbar ein Wechsel in der Sichtweise ab, der den Realitäten entgegenkommt.
„Ein Emotionsstau entsteht, wenn sich die Differenzierung in einer Liebesbeziehung erschöpft hat. Er lässt sich nicht auf „gescheiterte Kommunikation“ oder auf unüberwindbare Differenzen zurückführen.“
„Ein Emotionsstau lässt sich nicht durch Kompromisse und Verhandlungen auflösen, weil eben die wiederholten Versuche, einen Kompromiss zu finden und Dinge auszuhandeln, und ebenso die dabei erzielten Erfolge den emotionalen Engpass hervorbringen.“
Es wird allmählich zugestanden, dass eine Harmonisierung der Partnerschaft zu Lasten der Leidenschaft geht. Insgesamt zeigt sich immer deutlicher, dass sich Liebe und Leidenschaft bei weitem nicht so gut vertragen, wie das bisher behauptet wurde, und dass sie schon gar nicht identisch miteinander sind oder aneinander gebunden sind.
Geschichtliche Vorlagen
Damit vollzieht die Therapie eine Unterscheidung nach, die geschichtlich schon immer getroffen wurde. Geschichtlich wurde nämlich zwischen der Liebe in und der Liebe außerhalb der Ehe unterschieden. Die eheliche Liebe war stetig und freundlich und beruhte auf gegenseitiger Rollenerfüllung, die außereheliche Liebe hingegen war emotional und leidenschaftlich. In meinem Buch Fünf Lügen, die Liebe betreffend habe ich einen geschichtlichen Überblick über diese Liebesformen gegeben. Im Mittelalter hört sich das beispielsweise so an:
„Ein vernünftiger Mann soll seine Frau mit Besonnenheit lieben und nicht mit Leidenschaft. Nichts ist schändlicher, als seine eigene Frau wie eine Mätresse zu lieben.“ (Hyronimus)
„Der Mann, der sich von übermäßiger Liebe hinreißen lässt und seine Frau so leidenschaftlich bestürmt, um seine Begierde zu befriedigen, als wäre sie gar nicht seine Frau und er wollte dennoch Verkehr mit ihr haben, der sündigt.“ (Benedicti)
Sinnsysteme Liebe und Partnerschaft
Nun wird endlich auch in der Beratung zwischen Liebe und Partnerschaft unterschieden. (Mir sind die Begriffe emotional/leidenschaftliche Liebe versus partnerschaftliche Liebe eigentlich angenehmer, schließlich können sich beide Beziehungsformen auf die Liebe berufen).
Aber Liebe und Partnerschaft sind nicht nur nicht identisch miteinander, sie beißen sich sogar. Das heißt: Was in dem einen Bereich Sinn macht, stört im anderen.
Der wesentlichste Unterschied zwischen Liebe und Partnerschaft ist der zwischen Gabe und Tausch. Die Partner tun beides, sie schenken und verhandeln in ihrem Zusammenleben zugleich, wobei sich Handel und Schenken nicht zu sehr in die Quere kommen dürfen. Dazu müssen die Partner in der inneren Logik der jeweiligen Beziehungsform bleiben und Geschenke und Tausch auseinander halten. Gelingt das nicht, wird es schwierig.
Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels aus meinem Buch Und sie verstehen sich doch illustrieren. Ein Partner erkrankt und der andere besucht ihn über mehrere Monate täglich im Krankenhaus. Man kann sich vorstellen was mit den Liebesgefühlen passiert, wenn der Partner anschließend fordert: „Jetzt habe ich 200 Stunden aufgebracht, um dich im Krankenhaus zu besuchen, jetzt kannst du die nächsten drei Monate putzen und kochen.“ Der Partner wäre empört, weil er an dieser Forderung feststellen könnte, dass die Krankenhausbesuche nicht aus Liebe stattfanden, sondern aus Berechnung. Und was würde erst passieren, wenn eine solche Forderung vorher präsentiert würde: „Ich besuche dich nur, wenn du nach deiner Genesung putzt und kochst.“ In dem Fall wären Liebesmotive und Partnermotive mit entsprechenden Konsequenzen aufs Gröbste vermischt.
Liebende dürfen nicht rechnen. Sie bilanzieren weder die Zahl ihrer Küsse und Umarmungen noch führen sie Listen, wer wann sexuell aktiv war und wer wen als Nächstes zu begehren hat oder wem der nächste Orgasmus zusteht. Liebende treffen auch keine Vereinbarung über das Verhältnis von positiven und negativen Äußerungen in ihrer Beziehung (was manche Verfasser von Beziehungsratgebern durchaus empfehlen). Eine gute Liebesbeziehung erfordert es, partnerschaftliches Handeln und Schachern zu vermeiden. Liebe kann nur mit Liebe vergolten, ein Geschenk nur mit einem Geschenk beantwortet werden. Eine gute Partnerschaft ist auf Verhandeln und Lastenausgleich allerdings angewiesen.
Die Versuchung, Liebe durch Leistungen vergelten zu wollen oder Leistungen aufgrund der Liebesbeziehung schuldig zu bleiben, liegt in einer Beziehung allerdings nahe. Der eine Partner mag den anderen materiell versorgen, kann aber nicht ernsthaft erwarten, zum Ausgleich dafür sexuell begehrt zu werden. Sexuelles Begehren richtet sich nicht nach der Höhe monatlicher Zuweisungen. Ebenso wenig wird Liebe dadurch erhalten bleiben, dass der eine für den anderen die Wäsche wäscht oder die Steuererklärung macht.
Darin liegt das Verzwickte im Zusammenhang von Liebe und Partnerschaft: Was in der Liebe Sinn macht, ist in der Partnerschaft sinnlos, und umgekehrt.
Liebe und Partnerschaft könnten kaum widersprüchlicher motiviert sein, und dass in einer Paarbeziehung zwei derart verschiedene Kommunikationsformen miteinander auskommen müssen, verkompliziert das Vorhaben beträchtlich.
Die Partnerschaft setzt sich durch
Das alles bedeutet: Partner, die unter mangelnder Intensität ihrer Liebesbeziehung leiden, gehen mit der Liebe so um, also ob es sich dabei um Partnerschaft handeln würde. Der Rückgang der Leidenschaft ist demnach ein ganz normaler Vorgang, der auf die Bevorzugung der harmonischen Lebensbegleitung zurückzuführen ist. Was aber ist mit der Sehnsucht nach Verliebtheit, nach dem sinnlichen und erotischen Rausch und mit der Erneuerung des Selbst in der romantischen Verliebtheit? Das wird schmerzlich vermisst.
Pragmatischer Umgang mit der Liebe
Natürlich ist der Rückgang der Leidenschaft so nicht gewünscht. Natürlich wollen Partner alles für immer miteinander. Und natürlich steht die Treue bei den jungen Leuten hoch im Kurs. Aber das hat pragmatische Gründe. Die jungen Partner sind treu, weil es psychisch viel zu aufwendig ist, in den meist kurzen Beziehungen, die oft nur wenige Jahre halten, untreu zu sein. Lieber wechseln sie den Partner.
Der gleiche Pragmatismus bietet für ältere Paare eine ganz andere Lösung an: Die Nebenbeziehung. Hier ist damit nicht der einmalige Seitensprung oder eine so genannt offene Beziehung gemeint, sondern eine zweite Beziehung, die nicht allein dem Sex, sondern vor allem der Leidenschaft dient, der Auflösung des Ich, dem Verliebtsein als einer anderen Form der Liebe.
Diese Beziehungsform hat es immer gegeben, und auch heute noch wird sie in ganzen Landstrichen praktiziert. Helen Fisher berichtet in Anatomie der Liebe.
„Wie der Psychologe Lewis Diana berichtet, stell in den Städten an der mittleren und südlichen Adriaküste der Ehebruch eher die Regel als die Ausnahme dar … Am beständigsten sind Beziehungen zwischen Männern und Frauen, die jeweils mit anderen Partnern verheiratet sind. Viele halten Jahre oder sogar ein ganzes Leben lang.“
Manchmal ist eine solche Nebenbeziehung sehr einfach zu akzeptieren. Nach einer Talkshow berichtete mir eine Zuhörerin, wie sie zu ihrer Nebenbeziehung kam. Ihr Mann litt an einer schweren Krankheit, die sexuellen Kontakt unmöglich machte. Über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg pflegte sie ihn liebevoll, bis zu seinem Tode. Natürlich lag das sexuelle und erotische Leben in dieser Partnerschaft brach, weshalb die Frau – auch auf den ausdrücklichen Wunsch ihres Mannes hin –eine erfolgreiche Nebenbeziehung aufbaute.
In diesem speziellen Fall erscheint die Nebenbeziehung nachvollziehbar und praktizierbar, weil es den Partnern aus körperlichen Gründen nicht möglich war, Sex miteinander zu haben; und die Partner ernten sogar Respekt für eine partnerschaftliche Liebe, die so viel Weitherzigkeit zeigt. Anders hingegen wird geurteilt, wenn eine Partnerschaft „bloß“ aus emotionalen oder psychischen, also aus weniger einsichtigen Gründen, die Sexualität nicht bieten kann. Dann werden die Betreffenden gern als Versager bezeichnet und jeglicher Respekt wird ihnen verweigert. Sie werden im Gegenteil als „unreif“ angesehen.
Die Exklusivität der beiden Lieben
Die Verurteilung der Nebenbeziehung wird oft mit einem fragwürdigen Argument betrieben, mit der Behauptung, eine Beziehung müsse exklusiv sein:
„Es muss einen klaren Unterschied in der Qualität der Paarbeziehung zu allen anderen Beziehungen des sozialen Netzes geben. Dieser qualitative Unterschied ist ein Unterschied im Grad der Intimität. … Diese Intimität drückt sich am stärksten und „handgreiflichsten“ in einer wechselseitigen und auf Dauer gepflegten gemeinsamen Sexualität aus. Darum ist es unvermeidlich, dass eine zweite auf Dauer angelegte sexuelle Außenbeziehung die Intimität der Paarbeziehung auf Dauer zerstört.“ (Jellouschek)
Das ist so nicht nachvollziehbar, denn die Forderung nach Exklusivität einer Beziehung lässt die Nebenbeziehung unberührt. Haupt- und Nebenbeziehung haben schließlich verschiedene Zwecke, jede ist auf ihre eigene Art exklusiv, und in jeder sind sich die Partner auf eine andere Weise treu.
Schwierigkeiten anderer Art – die Eifersucht
Aber natürlich ist eine Nebenbeziehung nicht konfliktfrei zu haben. Die größte Schwierigkeit darin stellt die Eifersucht dar. Eifersucht ist im Kern die Angst, ohne den Partner nicht zu überleben. Um Eifersucht wird viel Gehabe und Geheimnis gemacht, sie wird für unausrottbar erklärt, den Genen zugerechnet und anderes mehr. Dabei ist es eine psychologische Binsenweisheit, dass Eifersucht ihre Bedeutung in frühkindlichen familiären Zusammenhängen erhält, wo der Verlust der wesentlichsten Bezugsperson, der Mutter, lebensbedrohlich erscheinen musste. Eifersucht ist daher weder ein Geheimnis noch gehört sie zur Natur des Menschen, sie ergibt sich vielmehr aus Beziehungsstrukturen, weshalb eine amerikanische Mormonin, die mehrere Nebenfrauen hat, sagen kann:
„Wir sind Polygamisten in vierter oder fünfter Generation, mein Vater hatte vier Frauen. Ich bin so aufgewachsen, es hat mich nie gestört“.i
Eingegrenzte Eifersucht
Der amerikanische Psychologe Ralph Hupkaii betont die kulturellen Aspekte der Eifersucht und stellt die These auf, dass es kaum Eifersucht gibt in Gesellschaften, die folgende vier Kriterien erfüllen:
-
Privatbesitz spielt kaum eine Rolle,
-
sexuelle Befriedigung ist leicht zu finden,
-
Elternschaft hat wenig Bedeutung,
-
und die Ehe ist keine Voraussetzung für ökonomisches Überleben oder soziale Anerkennung.
Vergleichbare Kriterien scheinen für Partner in Nebenbeziehungen zu gelten:
-
Sie sind materiell unabhängig voneinander,
-
verfügen miteinander über zusätzliche Möglichkeiten sexueller Befriedigung,
-
planen keinen gemeinsamen Nachwuchs und
-
haben sich moralischer Verhaltenszwänge entledigt.
Sie können daher die Eifersucht eingrenzen. Gern wird angeführt, dass ein Kampf gegen die Eifersucht vergebens sei und kein Mensch unseres Kulturkreises sie je hinter sich lassen könne. Das mag ja überwiegend stimmen, ist aber gar nicht nötig. Wichtiger als die Eifersucht loszuwerden, ist es, mit ihr umzugehen. Menschen, die Nebenbeziehungen leben, brauchen daher eine größere Bereitschaft, sich mit den Zusammenhängen ihrer Eifersucht auseinanderzusetzen, sie auszuhalten oder gegebenenfalls zu mildern. Dazu gehören vor allem klare Regeln, also partnerschaftliche Verlässlichkeit.
Solche Regeln lassen sich geschichtlich und in anderen Ethnien finden. Eine Betrachtung verschiedener Kulturen zeigt, dass klare Regeln stets den Umgang mit den Gefühlen erleichterten, die außerehelicher Sex hervorzubringen im Stande ist. Eine Möglichkeit dafür ist das Schweigen. Die Partner wissen genau, was sie nicht wissen wollen, erlauben dem anderen, was sie selbst suchen und handeln nach dem Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“
Dass sexueller Kontakt zu dritten Personen aber selbst dann keinen Anlass zur Eifersucht gibt, wenn er offen stattfindet (weil er im Rahmen akzeptierter Regeln erfolgt), zeigt Annette Schmittiii am Beispiel anderer Kulturen. Die Banaro Neu Guinas beispielsweise können ihre Partner in bestimmten Zeremonien tauschen; die indischen Toda ermöglichten ebenfalls den Partnertausch.iv Auch in polygamen Gesellschaften stellt, wie sie aufzeigt, der sexuelle Kontakt zu Nebenmännern oder Nebenfrauen keinen legitimen Grund für Eifersucht dar, wenn es nicht zu Bevorzugungen kommt.
Eindeutige Regeln kontrollieren die Eifersucht, das beweisen auch Partner, die den privaten rein sexuell gemeinten Partnertausch praktizieren. Ihre Regelungen im Rahmen kontrollierter Freiheit sind klar: Man tut es getrennt voneinander, oder man tut es gemeinsam. Anschließend geht man gemeinsam mit dem Partner nach Hause. Der Aufbau von Nebenbeziehungen ist nicht gewünscht, die gegenseitige Kontrolle stellt dies sicher. Man kann lernen, dass die Lust des anderen keine Gefahr ist. Hören wir zweien zu, die in Swinger-Clubs gehen.
Sie: Als Frau wird man ja eher dazu erzogen, Sex und Liebe miteinander zu verbinden. Ich habe das sehr stark gemacht, aus einer konservativen Erziehung heraus. Als ich Klaus das erste Mal mit einer Frau habe schlafen sehen, hatte ich einen richtigen Schock. Ich konnte das nicht richtig trennen, und ich hatte bis dahin gar nicht in Betracht gezogen, selbst mit einem Mann zu schlafen. Mittlerweile habe ich gelernt, Sex und Liebe zu trennen und zu sagen “Das ist Sex” und “Das ist Sex und Liebe”. Ich kann es immer besser trennen, weil ich meine eigenen Erfahrungen damit mache. Sex ist schön und macht Spaß, aber deshalb muss man keine Beziehung zu demjenigen haben.
Er: Viele gehen in Clubs, weil es schon Seitensprünge gegeben hat und die Paare nun versuchen, es auf eine ehrliche Art zu machen. Die suchen keine neue Beziehung, sondern wollen ehrlich fremdgehen.
Man kann zwei Menschen lieben!
Bloßen Sex außerhalb der Beziehung zuzulassen ist sicher leichter, als eine Nebenbeziehung zu ermöglichen. Aber Sex reicht vielen Partner nicht. Es geht um Liebe und darum, dass man durchaus zwei Partner auf unterschiedliche Weise lieben kann – so wie das im Begriff von der Liebe innerhalb und außerhalb der Ehe der Fall ist. Diese Erfahrung machen übrigens alle, die sich unerwartet verlieben und dann zwischen den Stühlen hängen.
Oftmals müssen sich Menschen, die parallele Beziehungen führen, den Vorwurf anhören, sie betrieben eine problematische Fragmentierung von Bedürfnissen. Sie wollten beides oder alles haben, Leidenschaft und Liebe und Begehren, sie praktizierten sozusagen den Gipfel der Unverfrorenheit. Ja, das ist so. Doch ist der gängige Versuch, beides und alles mit einem einzigen Menschen lebenslang zu haben, eigentlich nicht noch größenwahnsinniger?
Zwar soll die Ehe alles liefern, was Partner brauchen, aber Anzeichen dafür, dass sie diesen Auftrag erfüllen kann, gibt es nicht. Und was sind Bordelle und Masturbation anderes als Fragmentierungen? Die Fragmentierung von Bedürfnissen ist so alt wie die Menschen, sie taugt nicht als Argument gegen Nebenbeziehungen. Es sprechen im Gegenteil manche gute Gründe für diese Beziehungsform.
„Der erotische Reiz des “reinen” Liebesverhältnisses liegt darin, dass hier zwischen den körperlichen Begegnungen die erotischen Phantasien nicht abreißen, sondern sich ungestört weiterentwickeln“.v
Geliebten fällt es leichter, das Feuer der Leidenschaft lebendig zu halten, weil sich ihre Sehnsüchte und Phantasien aneinander entzünden können, weil ihre Illusionen nicht durch den Alltag gestört und gelöscht werden. Und wie eine Schilderung zeigt, wird unter Umständen die Sexualität in der Lebenspartnerschaft durch die Nebenbeziehung belebt:
„Parallel dazu lief eine zunächst noch sehr schöne, durch die anderen Beziehungen eher noch befruchtete Sexualität mit meinem Ehepartner.“vi
Der Psychologe Wolfgang Schmidbauer meint denn auch:
„In vielen Fällen ist die heimliche Liebe aber auch die konzertante Oberstimme zu dem Basso continuo der verpflichtenden, auf Haushalt und Kindererziehung gerichteten Liebe … so kann eine heimliche Liebesbeziehung mehrere Ehen überdauern.“vii
Verbreitung
Das Phänomen der Nebenbeziehung ist verbreiteter, als das allgemein von Wissenschaftlern zugestanden wird. Ich habe in meinen zahlreichen Interviews bisher keine Paare über 40 getroffen, die nicht aus eigener Erfahrung oder dem persönlichen Umfeld von Nebenbeziehungen berichten konnten. Per Email errechten mich beispielsweise folgende Schilderungen:
„Ich bin 67 Jahre alt, sehe aber wesentlich jünger aus. Vor ca. 15 Jahren machte sich bei mir eine immer stärker werdende Abneigung bezüglich Sexualität mit meinem Mann bemerkbar. Ich teilt es ihm mit und er ließ mich wissen, dass er ohne Sexualität nicht leben wollte und ich müsste akzeptieren, dass er sich anderen Frauen zuwendet und sich eine Freundin sucht. Ich habe mir dann auch einen Freund gesucht, der 17 Jahre jünger ist. Meinem Mann war und ist es möglich, meine Außenbeziehung zu akzeptieren, weil ich seine auch toleriere.“
Eine verheiratete Frau, 45, hat einen Liebhaber. Die meisten ihrer Freundinnen leben so, wie sie beschreibt:
„Meine Schwester hat seit vier Jahren einen Freund, dann habe ich eine Freundin, die hat im Urlaub jemanden kennen gelernt und ist seit sechs Jahren mit dem, eine feste Fernbeziehung, und dann hat sie seit zwei Jahren noch einen um die Ecke, mit dem es leidenschaftlicher ist. Eine andere Freundin macht ab und an One-Night-Stands, schon seit sie verheiratet ist, da hat sie nie einen Hehl daraus gemacht. Seit zehn Jahren trifft sie sich mit einem reichen Mann im Urlaub, lässt sich verwöhnen und beschenken, das genießt sie auch und nimmt es mit. Und dann habe ich im Urlaub eine tolle Frau kennen gelernt, eine Professorin, Anfang 50, die hat zwei Liebhaber, einen schon viele Jahre, den anderen seit vier Jahren, beide Männer sind verheiratet und wollen bei ihren Ehefrauen bleiben. Das könnte ich weiter spinnen, ich lerne ständig Frauen kennen, die so leben. Eine andere Freundin hat gerade einen Dritten kennen gelernt, den sie mal testen will …“
Auf meine Frage „Fängt das in einem gewissen Alter an?“ schreibt sie:
„Ich meine, dass junge Frauen das anders sehen, weil die die Illusion haben, die Leidenschaft wäre für das ganze Leben mit einem. Wenn ich noch jung wäre, würde ich wahrscheinlich eher die Beziehung wechseln als mir einen Liebhaber zulegen. Die ich kenne, die sind ab vierzig aufwärts, und die wollen wissen, was mit ihrer Leidenschaft ist, und wenn man die dann erlebt, dann will man nicht mehr darauf verzichten.“
„Und die Männer …?“
„… mein jetziger Freund liebt mich schon sehr, wie er sagt, aber er ist zwanzig Jahre verheiratet und will bei seiner Frau bleiben“
Der Umgang der Partner damit
In meiner Beratung tauchen öfter Paare, auf die Hilfe beim Umgang mit Nebenbeziehungen suchen. Dabei geht es vor allem um das partnerschaftliche Aushandeln von Regeln, also um die Frage, unter welchen konkreten Bedingungen die Partner Erfahrungen mit Nebenbeziehungen zulassen, ohne die Hauptbeziehung dadurch zu kündigen. Fragen wie die folgenden werden dabei aufgeworfen:
-
Worauf müssen wir uns verlassen können?
-
Was sollte oder darf nicht passieren?
-
Was, wenn einer es nicht mehr aushält?
-
Worüber sprechen wir, worüber nicht?
Vertrauen und Treue sind in jedem Fall nötig. Aber es muss klar sein, worauf man vertrauen kann und worin die Treue bestehen soll. Du kannst dich darauf verlassen … dass ich immer wieder zurückkomme … dass ich dir nichts erzähle … Ein Mann bot seiner wesentlich älteren Frau das Versprechen an, sie zu pflegen, darauf könne sie sich verlassen, aber ohne Sexualität wolle er nicht leben, und daher brauche er eine Nebenbeziehung.
Die Arrangements, die Partner treffen, sind vielfältiger Natur. Und natürlich gibt es in keinem Fall für das Funktionieren von Nebenbeziehungen eine Garantie, wie es auch für das Funktionieren von ausschließlichen Beziehungen keine Garantie gibt.
Zweierlei Sehnsüchte
Aber – und diesem Fakt werden Partner, die Nebenbeziehungen führen, gerecht – es gibt zwei grundsätzlich wichtige Formen der Liebe. Diese Liebesformen erklären sich für mich aus zwei unterschiedlichen Bedürfnissen. Der Philosoph Eugen-Maria Schulak sagt:
„Vor etwa 60.000 Jahren … begann der Mensch, seine Toten zu bestatten. Verstorbene wurden geschmückt und deren Gräber gekennzeichnet. … 30.000 Jahre später … entstanden in Frankreich die ältesten uns bekanntesten Ritzzeichnungen der westlichen Welt … Der Inhalt jener ersten Kunst war einschlägig: Schamlippen und erigierte Glieder, üppige Brüste und fette Hinterteile, Paare beim Geschlechtsakt …“
„Die Vergänglichkeit und die Geschlechtlichkeit, die Mysterien des Todes und des überschäumenden Lebens, waren damit zweifellos die ersten und zentralen Inhalte transzendenter kultureller Überlegungen.“viii
Gegen die Vergänglichkeit und damit für die Verlässlichkeit werden Lebenspartnerschaften eingegangen, dem überschäumenden Leben wird durch die leidenschaftliche Liebe entsprochen.
Wer beides mit einem Menschen erlebt, ist glücklich – oft nur für relativ kurze Zeit. Und wer beides mit zwei Menschen erlebt, ist nicht weniger glücklich – oft sogar auf lange Sicht.
Verweise:
i Eine Mormonin, zitiert aus einem Bericht der „Bildwoche“ 24, 2001
ii Zitiert aus Annette Schmitt, Eifersucht, Bergisch Gladbach 2000, S. 102
iii In “Eifersucht”, Bergisch Gladbach 2000, S. 97 ff.
iv Siehe hierzu Anette Schmitt “Eifersucht”, Bergisch Gladbach 2000, S. 96 ff.
v Wolfgang Schmidbauer, Die heimliche Liebe, Reinbek 2001, S. 54
vi Michael Mary, Fünf Wege, die Liebe zu leben, Bergisch-Gladbach 2002
vii Wolfgang Schmidbauer, Die heimliche Liebe, Reinbek 2001, S. 63
viii Eugen–Maria Schulak, Zeitschrift für Philosophie 5/2000
Ein wunderbarer und ehrlicher Text. Als Frau fehlt mir die Suche nach Auflösung miteinander, die beides braucht, Liebe und Gehaltenwerden. Die Trennung der Bedürfnisse mag funktionieren und pragmatisch sein. Doch der Mut in Liebe zu zweit einzutauchen, sich zu verlieren, sich selbst wiederzufinden, Abstand zu wagen/zuzulassen um sich dann wieder neu zu entdecken….
trägt für mich eine Heiligkeit in sich, die mir wichtiger ist als alles andere.
Herzliche Grüße
Isabelle